11.10.2023

„Modernstes Einwanderungsrecht der Welt“ taugt nichts

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Jon Rawlinson via Flickr (CC BY 2.0 / bearbeitet)

Mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz versucht die Bundesregierung den Ursachen des Fach- und Arbeitskräftemangels auszuweichen. Ein Scheitern mit Ansage.

Ab November treten die ersten Regelungen des von Bundesinnenministerin Nancy Faser und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) auf den Weg gebrachten und von Bundestag und Bundesrat im Juli gebilligten Fachkräfteeinwanderungsgesetztes in Kraft. Das neue Gesetz, laut Faeser das „modernste Einwanderungsgesetz der Welt“, ist Teil der ebenfalls von der amtierenden Bundesregierung initiierten Fachkräftestrategie, die darauf abzielt, den sich seit Jahren verschärfenden Fachkräftemangel in Deutschland zu überwinden.

Erreicht werden soll dies, indem der demographisch bedingte Rückgang der Erwerbstätigenzahlen durch mehr Zuwanderung aus nicht EU-Ländern sowie durch höhere Erwerbsbeteiligung von Inländern, vor allem von Frauen und Älteren, ausgeglichen wird.

Mit ihrer Fachkräftestrategie zielt die Bundesregierung ausschließlich darauf ab, den demographisch ausgelösten Fach- und Arbeitskräftemangel durch eine quantitative Steigerung der in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden zukünftiger Zuwanderer und der inländischen Bevölkerung zu überwinden. Die Möglichkeit, den Fach- und Arbeitskräftemangel durch qualitative Verbesserungen zu überwinden, also mittels wirtschaftspolitischer Weichenstellungen Arbeitsproduktivitätsverbesserungen zu initiieren, zieht die Fachkräftestrategie hingegen nicht in Betracht. Dies ist ein schwerwiegender Fehler, denn mit einer rein quantitativen Ausweitung des Arbeitsangebots lässt sich der Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland nicht überwinden, da die Potenziale weitgehend erschöpft sind.

Weiter wie bisher

Die beabsichtigte Ausweitung der von den inländischen Arbeitskräften leistbaren Stunden ist, wie auch die Einwanderung ausländischer Fachkräfte, längst an Grenzen gestoßen. Das hat sich in den vergangenen Jahren sehr deutlich gezeigt. Denn der, inzwischen quer durch alle Branchen erkennbare Fach- und Arbeitskräftemangel, ist nicht etwa entstanden, weil die Erwerbstätigen in Deutschland weniger arbeiten, sondern obwohl sie kontinuierlich mehr arbeiten. In Deutschland stieg die Gesamtarbeitszeit aller Erwerbstätigen einschließlich der Zugewanderten von 2007 bis 2022 um 6 Prozent von 58,6 auf 62,1 Milliarden Stunden.1 In diesem Zeitraum ist die Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland – durch Einwanderung, steigende Erwerbsquoten der Inländer sowie den bis Ende der 2010er Jahre noch positiven demographischen Effekt mit zunehmender Erwerbsbevölkerung – um 5,3 Millionen auf 45,6 Millionen gestiegen.

„Um das inländische Erwerbspotenzial tatsächlich zu heben, wären ganz andere Probleme anzugehen, die in der Fachkräftestrategie keine Erwähnung finden."

Die Bundesregierung gründet ihre Fachkräftestrategie auf diese, wie sie meint, vermeintlich „positive Entwicklung“ die seit vielen Jahren von der „Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik“ der Bundesregierung ausgehe. So wird unter anderem dargelegt, dass im Zeitraum von 2010 bis 2020 die Anzahl der erwerbstätigen Frauen um 1,6 Millionen gestiegen ist und infolge dessen die Frauenerwerbsquote von 68,8 auf 74,5 Prozent angehoben wurde. Im gleichen Zeitraum sind 3,2 Millionen ältere Erwerbstätige zwischen 55 und 64 Jahren hinzugekommen; in dieser Altersgruppe stieg die Erwerbstätigenquote sogar von 57,0 auf 70,6 Prozent.

Mit der Fachkräftestrategie behauptet die Bundesregierung, dass die gleiche Herangehensweise, die jedoch nicht funktioniert hat, da sie eine kontinuierliche Verschärfung des Fach- und Arbeitskräftemangels zur Folge hatte, nun zielführend sei, obwohl sie heute unter umgekehrten und damit weit ungünstigeren demographischen Vorzeichen angewendet wird. Obwohl es also trotz einer eheblichen Zunahme geleisteter Arbeitsstunden nicht gelungen ist, die Entstehung des Fach- und Arbeitskräftemangels zu verhindern, adelt die Bundesregierung diesen Ansatz nun, indem sie ihn zur „Strategie“ erhebt.

Fleißige Inländer gesucht

Die Probleme, auf die Deutschland zusteuert, sind unter Beibehaltung dieser „Strategie“ gravierend. Seit Anfang dieses Jahrzehnts und voraussichtlich bis etwa 2035 führt die demographische Alterung nun auch in Deutschland nicht mehr zu einer steigenden, sondern zu einer sogar recht zügig sinkenden Anzahl an Erwerbstätigen. Deutlich mehr Ältere scheiden aus dem Erwerbsleben aus, als Junge nachkommen. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) würden dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 daher mehr als 7 Millionen weniger Personen zur Verfügung stehen als heute. Obendrein geht die Bundesregierung davon aus, dass der Fach- und Arbeitskräftebedarf über das heutige Niveau hinaus weiter ansteigen wird, da die fortschreitende Digitalisierung und die Dekarbonisierung dies erfordern.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Erwerbsquoten von Älteren und auch von Frauen – auf deren Steigerung die Fachkräftestrategie vor allem setzt – bereits stark gestiegen waren. Das noch ausreizbare Potenzial wird daher immer kleiner. Dass es sich bereits weitgehend erschöpft hat, sieht man zum Beispiel daran, dass sich die Erwerbsquote der Frauen mit einem Anstieg von 58 Prozent im Jahr 1991 auf 74 Prozent 2019 der der Männer (mit 84 Prozent) sehr stark angenähert hat.

Heils heile Welt

Um das inländische Erwerbspotenzial tatsächlich zu heben, wären ganz andere Probleme anzugehen, die jedoch in der Fachkräftestrategie keine Erwähnung finden: In Deutschland gibt es insgesamt 45,6 Millionen Erwerbstätige und offiziell nur gut 2,6 Millionen Arbeitslose. Unter diesen Arbeitslosen befindet sich knapp eine Million Langzeitarbeitslose, von denen mehr als 60 Prozent nur Helfertätigkeiten ausführen können. Das Heer derjenigen, die – trotz des Fach- und Arbeitskräftemangels – nicht arbeiten oder weniger arbeiten, als sie gerne möchten, ist jedoch viel größer. Insgesamt 6,6 Millionen Menschen sind betroffen, darunter 0,9 Millionen Unterbeschäftigte (plus derzeit etwa 0,2 Millionen Kurzarbeiter). Dazu gehören außerdem gut 3,1 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 74 Jahren, die sich Arbeit wünschen, dennoch aber ohne Arbeit sind. Auch sie werden nicht als arbeitslos, sondern als sogenannte „Stille Reserve“ erfasst.

Und es gibt viele Hinweise auf zugrundeliegende Probleme: Etwa 12 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, also etwa 6,2 Millionen sind Analphabeten. Ein Viertel der Zehnjährigen in Deutschland kann nicht richtig lesen. Inzwischen sind mehr als 2,3 Millionen junge Erwachsene im Alter von 20–34 Jahren ohne Berufsabschluss – seit Jahren mit steigender Tendenz.

EU-Zuwanderung – ein totes Pferd

Wie groß die gesellschaftlichen Herausforderungen zur Mobilisierung von Arbeitskräften sind, sofern man – wie die Bundesregierung - die Verbesserung der seit vielen Jahren fast stagnierenden Arbeitsproduktivität nicht als wirtschaftspolitischen Stellhebel in Betracht zieht, hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) ermittelt. Wollte man das Erwerbspersonenpotenzial des Jahres 2020 bei etwa 47,5 Millionen Personen stabil halten, wäre neben einer erheblichen Anhebung der Erwerbsquote von Frauen und 60- bis 69-Jährigen eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften notwendig.

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz fokussiert die Bundesregierung die Zuwanderungsbemühungen auf Drittstaaten. Denn die Möglichkeiten, EU-Bürger zur Arbeitsaufnahme in Deutschland zu bewegen, sind weitgehend erschöpft. Von 2012 bis 2022 war als Folge der EU-Ostererweiterung und der ab 2011 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit die Anzahl der in Deutschland beschäftigten EU-Ausländer um 1,5 Millionen auf 2,75 Millionen angestiegen. Der Löwenanteil dieses Nettozuwachses an Beschäftigten aus EU-Staaten resultiert mit insgesamt 1,25 Millionen aus der Zuwanderung von Osteuropäern, hauptsächlich Rumänen. Seit 2018 hat sich der Beschäftigungsanstieg von Personen aus dieser Region auf durchschnittlich nur noch etwa 80.000 pro Jahr deutlich verlangsamt.

Andererseits ist die Anzahl der aus nicht-osteuropäischen EU-Staaten stammenden Beschäftigten in Deutschland in diesen zehn Jahren insgesamt nur um etwa 250.000 Personen gewachsen. Da in diesem Zeitraum im Saldo in etwa ebenso viele Deutsche im erwerbsfähigen Alter in diese EU-Staaten ausgewandert sind, ist der Beschäftigungsaufbau in Deutschland faktisch vollkommen zum Erliegen gekommen. Somit hat ausschließlich die zunehmende Beschäftigung von Osteuropäern in den vergangenen zehn Jahren eine spürbare Ausweitung des Arbeits- und Fachkräftepotenzials in Deutschland bewirkt.

„Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz zieht sich die Politik auf technokratische Behelfslösungen zurück, die das Problem mehr schlecht als recht verwalten, um sich den gewaltigen Herausforderungen, die für den Fach- und Arbeitskräftemangel ursächlich sind, nicht stellen zu müssen."

Als Hauptgrund für das Versiegen des Zustroms von Fach- und Arbeitskräften aus den EU-Ländern gilt der demographische Wandel, der im Unterschied zu Deutschland in den meisten anderen EU-Ländern nicht erst jetzt, sondern bereits seit etwa 10 Jahren einen Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung bewirkt hat. Insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte sind daher in ganz Europa knapper geworden. Entscheidend für die, aller politischen Bemühungen zum Trotz, nur schwache Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist jedoch, dass Deutschland für diese Menschen an Attraktivität verloren hat. Denn das Reallohnniveau ist seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland mit durchschnittlich etwa 0,5 Prozent pro Jahr kaum noch gestiegen, während insbesondere osteuropäische Länder, wie etwa Polen, mit Reallohnsteigerungen von durchschnittlich knapp vier Prozent pro Jahr ab Mitte der 2010er deutlich aufgeholt haben. Die in Deutschland gezahlten Löhne und Gehälter liegen daher für immer mehr potenzielle Zuwanderer zu niedrig im Verhältnis zu den großen Hürden, die sie etwa bei der Wohnungssuche in Ballungsgebieten, bei der Unterbringung von kleinen Kindern oder etwa aufgrund der Sprache überwinden müssen.

Lose-Lose mit Drittländern

Zur Überwindung des Fach- und Arbeitskräftemangels durch Zuwanderung setzt die Bundesregierung daher auf Drittstaaten. Sie glaubt, dass sie mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz jedes Jahr zusätzlich bis zu 75.000 qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU Staaten nach Deutschland lotsen kann. Das ist sportlich, denn trotz intensiver Bemühungen ist es bisher kaum gelungen, Fach- und Arbeitskräfte aus Drittstaaten zwecks Arbeitsaufnahme nach Deutschland zu holen.

Aus den von der Bundesregierung ausgewiesenen „Fokusländern mit hohen Potenzialen zur Fachkräfterekrutierung“, wie etwa die besonders bevölkerungsstarken Länder Indien, Brasilien oder etwa die Philippinen, sind in Deutschland bisher erst insgesamt etwa 160.000 Personen beschäftigt – immerhin ein Plus von gut 10.000 pro Jahr seit 2012. Um weitere Zuwanderungspotenziale zu heben, ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in diesem Jahr nach Indien gereist, Heil und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) waren in Brasilien. Brasilien habe, so Heil, einen Überhang an gut ausgebildeten Pflegekräften, woraus man eine „klassische Win-win Situation schaffen“ könne, „bei der alle profitieren“ da sich Deutschland „in der Ausbildung vor Ort“ engagiere. Tatsächlich seien gegenwärtig bis zu 200 brasilianische Pflegekräfte in Deutschland beschäftigt, so Heil. Die BA rekrutiert seit 2018 brasilianische Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt und sie hält laut Heil eine Anwerbung von bis zu 700 Pflegekräften pro Jahr für möglich.

Die Fachkräfterekrutierung der Bundesregierung stößt nicht in aller Welt auf helle Begeisterung. Vor einigen Jahren hatte der serbische Staatspräsident dem nach Pflegekräften suchenden deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gesagt: „Ich möchte nicht, dass du nach Serbien kommst und meine Schwestern abholst“. Nicht weniger amüsiert ist die albanische Regierung, die verzweifelt versucht, die Abwanderung ausgebildeter Ärzte zu verhindern, die zu gravierenden Engpässen in der albanischen Gesundheitsversorgung geführt hat. Ende März erklärte der albanische Ministerpräsident Edi Rama, dass der albanische Staat „keine Studenten für das deutsche Gesundheitssystem“ finanziere und dem einen gesetzlichen Riegel vorschieben wolle, damit in Albanien ausgebildete Ärzte nicht mehr „am ersten Tag nach dem Examen abreisen“. Das dürfte das ohnehin offenbar nicht gigantische Zuwanderungspotenzial empfindlich begrenzen.

Das „modernste Einwanderungsrecht der Welt“ ist, wie auch die gesamte Fachkräftestrategie der Bundesregierung höchst ungeeignet, um den Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland zu überwinden. Faktisch zieht sich die Politik auf technokratische Behelfslösungen zurück, die das Problem mehr schlecht als recht verwalten, um sich den gewaltigen Herausforderungen, die für den Fach- und Arbeitskräftemangel ursächlich sind, nicht stellen zu müssen. Denn es gibt zwei Großbaustellen, die sie selbst anpacken könnte, weil sie mit politischen Mitteln lösbar sind. Erstens müsste sie eingestehen, dass die deutsche Wirtschaft in einer Produktivitätskrise steckt, die – anders als der demographische Wandel, der sich politischem Einfluss weitgehend entzieht – mit wirtschaftspolitischen Weichenstellungen überwunden werden kann. Zweitens dürfte nicht mehr kaschiert und totgeschwiegen werden, dass immer mehr Menschen den Weg in die Erwerbstätigkeit nicht finden, da die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlen, damit sie Qualifikation und Fähigkeiten potenzieller Fach- und Arbeitskräfte entwickeln.

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